Innenminister Hövelmann bei
Fachtagung der Friedrich-Ebert-Stiftung: ?Die Deutsche Einheit ist erst dann
vollendet, wenn alle, die rechtmäßig und auf Dauer in Deutschland leben, die
gleichen Chancen haben?
04.10.2010, Magdeburg – 141
- Ministerium für Inneres und Sport
Ministerium des Innern - Pressemitteilung Nr.: 141/10
Ministerium des Innern - Pressemitteilung Nr.: 141/10
Magdeburg, den 4. Oktober 2010
Innenminister Hövelmann bei
Fachtagung der Friedrich-Ebert-Stiftung: ¿Die Deutsche Einheit ist erst dann
vollendet, wenn alle, die rechtmäßig und auf Dauer in Deutschland leben, die
gleichen Chancen haben¿
Auf der heutigen Fachtagung der Friedrich-Ebert-Stiftung ¿Erinnerungen in der Einwanderungsgesellschaft ¿ 20 Jahre Deutsche Einheit
aus der Sicht von Migrant/innen in Ost und West¿ in Magdeburg sagte
Innenminister Holger Hövelmann (SPD):
¿Vor
nunmehr 21 Jahren ¿ im Herbst 1989 ¿ gingen die Menschen hier in Ostdeutschland
in stetig wachsender Zahl auf die Straße. Schnell standen die Proteste unter
dem inoffiziellen Motto: ¿Wir sind das Volk!¿. Später ¿ insbesondere
nachdem die Mauer gefallen war, wurde dieser ebenso schlichte wie kraftvolle
Satz zunehmend abgewandelt. ¿Wir sind ein Volk!¿ riefen die Massen jetzt
den Funktionären in Partei und Regierung mit immer größerem Nachdruck zu. Diese
Parole symbolisiert in der kollektiven Erinnerung der Menschen in Ost- und
Westdeutschland wie keine andere die Wiedervereinigung. Sie stand für den
überaus legitimen Wunsch der Deutschen nach über vier Jahrzehnten der Trennung
wieder in einem Staat zusammenzufinden.
Allerdings eignete sich der Satz auch als Abgrenzung von denen, die nicht zur
Nation gehörten. Und so wundert es nicht, dass sich viele Zuwanderer - in Ost
und West ¿ in der Wendezeit nur als Randfiguren der Ereignisse empfanden.
Die
Politikwissenschaftlerin Nevim Cil, die selbst türkischer Herkunft ist, hat die
damalige Wahrnehmung vieler Migranten so zusammengefasst: ¿Man fühlte sich wie auf einer Hochzeit. Zwei Seiten - Braut,
Bräutigam und deren Familien - freuen sich - und man ist ungebetener Gast. Die
Deutschen haben gefeiert und wir durften zugucken.¿ Es ist ein Verdienst
dieses Fachtages, diesen Eindruck ein wenig zu korrigieren, indem er die
Erfahrungswelten der nichtdeutschen Bevölkerung im Einigungsprozess in den
Fokus rückt.
Für mich als Innenminister des Landes Sachsen-Anhalt und ehemaliger DDR-Bürger
ist dabei die Situation der Ausländerinnen und Ausländer in Ostdeutschland in
den Jahren vor und nach der Wende von besonderem Interesse.
Im Zeitpunkt der friedlichen Revolution lebten in der DDR ¿ immerhin - rund
190.000 Ausländerinnen und Ausländer, wobei die Angehörigen der sowjetischen
Streitkräfte ¿ ihre Zahl schwankte zwischen 350- und 500.000 ¿ nicht
mitgerechnet sind. Rund die Hälfte der ausländischen Bevölkerung waren so
genannte Vertragsarbeiter, die insbesondere aus Angola, Mosambik, Algerien und
Kuba sowie vor allem aus Vietnam stammten. Die Vertragsarbeiter waren erst seit
Beginn der 1980er-Jahre auf Grund von bilateralen Verträgen mit diesen
¿sozialistischen Bruderstaaten¿ in die DDR gekommen. Arbeitsmigration war also
in der DDR - anders als in Westdeutschland ¿ noch ein relativ neues Phänomen.
Die zweitgrößte Gruppe unter den Migranten waren Studierende sowie Schüler und
Auszubildende, die ebenfalls aus den so genannten Bruderstaaten kamen und in
der DDR qualifiziert wurden. Beiden Gruppen gemeinsam war, dass sie von der einheimischen
Bevölkerung, außerhalb der Arbeits- und Ausbildungsstätten, weitgehend
separiert wurden.
Sie lebten, abgeschottet in eigenen Wohnheimen. Private Kontakte zu DDR-Bürgern
gab es selten. Sie waren von staatlicher Seite auch nicht erwünscht. Trotz
aller offiziellen Propaganda von internationaler Solidarität und
Völkerfreundschaft. Eine konsequente Integrationspolitik fand unter diesen Bedingungen
naturgemäß nicht einmal ansatzweise statt. Dies und die fehlenden Erfahrungen
ehemaliger DDR-Bürger im persönlichen Umgang mit Menschen anderer Kulturen wirken
zum Teil noch bis heute fort.
Es ist wichtig daran zu erinnern, dass die Ereignisse 1989/90 für viele Ausländer/innen
in der DDR eine noch schärfere Zäsur bedeutete als für die Ostdeutschen. Mit dem
Zusammenbruch des alten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems entfiel für viele
von ihnen nämlich die rechtliche, politische und ökonomische Basis ihres
Aufenthalts in der DDR, sei es, dass ihre Arbeitskraft nicht mehr benötigt
wurde, sei es, dass ihre Ausbildung hier nicht mehr gewährleistet werden
konnte. Dies führte dazu, dass viele der in der DDR lebenden Ausländer/innen,
unter den Vertragsarbeitern war es die Mehrheit ¿ Deutschland verlassen
mussten. Wer bleiben wollte stand vor einer ungewissen Zukunft, etwa als
Asylbewerber oder auch in der Illegalität. Vor diesem Hintergrund lässt sich
rückblickend konstatieren, dass die Deutsche Einheit für viele Ausländer in
Ostdeutschland sicher kein Anlass zu uneingeschränkter Freude war.
Der heutige Tag gibt aber auch Anlass, das Gemeinsame im Erleben zu betonen.
Die Deutsche Einheit war für alle Menschen in Ostdeutschland mit gewaltigen
Umwälzungen und oftmals auch biografischen Brüchen verbunden.
Schließlich mussten alle die hier lebten - gleichgültig, ob mit oder ohne
Migrationshintergrund ¿ sich ihren Platz in einer völlig veränderten Wirtschafts-
und Gesellschaftsordnung wieder neu erkämpfen. Dies erforderte von allen Opfer,
Mut und Entschlossenheit. Diesen Anforderungen sehen sich übrigens Zuwanderer,
die aus Ländern mit anderer Kultur und meist auch anderer Sprache kommen, stets
gegenüber. Migranten sind bereit, solche Anstrengungen auf sich zu nehmen, weil
sie ein besseres, freieres und glücklicheres Leben für sich und ihre Familien
erhoffen. Dies sind Hoffnungen, die auch uns DDR-Bürger 1989/90 antrieben. Umso
mehr sollten gerade wir Verständnis für die Motive und Sorgen von Menschen
haben, die als Migranten zu uns gekommen sind.
Unmittelbar nach der Wiedervereinigung standen für viele ehemalige DDR-Bürger
zunächst die eigenen Sorgen und Ängste im Vordergrund. Bei Wiedergründung des
Landes Sachsen-Anhalt lebten hier nur noch etwa 18.000 Ausländer/innen. Doch
gerade in den Jahren nach der Deutschen Einheit kamen in erheblicher Zahl neue
Gruppen von Zuwanderern zu uns: Spätaussiedler, Asylbewerber und jüdische
Kontingentflüchtlinge. In den ersten sechs Jahren nach der Deutschen Einheit,
also von 1991 bis 1996, hat Sachsen-Anhalt aus der Gruppe der Spätaussiedler
und ihrer Familienangehörigen mehr als 40.000 Personen aufgenommen. Bei den
Asylbewerbern wurden die höchsten Zugangszahlen in den Jahren 1992 und 1993 mit
rund 15.000 bzw. 11.000 Neuzugängen erreicht. Die genannten Gruppen werden nach
dem Aufnahmegesetz auf die Landkreise und kreisfreien Städte verteilt, was dazu
führte, dass viele der Neuzuwanderer in Gemeinden kamen, die noch nie zuvor mit
Migration konfrontiert gewesen und hierauf auch nur eingeschränkt vorbereitet waren.
Nicht nur in Sachsen-Anhalt war die große Zahl der Neuankömmlinge eine
gewaltige Herausforderung sowohl für die Neuzuwanderer als auch für die
aufnehmenden Kommunen, die leider von manchen auch genutzt wurde, um in
unverantwortlicher Weise Vorurteile gegen Zuwanderer zu schüren. Dies führte
nicht nur zu der erbitterten Debatte um die Änderung des Asylrechts, die in den
so genannten Asylkompromiss mündete, sondern auch zu brutalen Brandanschlägen
gegen Asylbewerberunterkünfte und weitere menschenverachtende fremdenfeindliche
Übergriffe, für die noch heute Städtenamen wie Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda,
Mölln und Solingen stehen.
Ich weiß, dass diese Ereignisse in den Migranten-Communities bis heute Spuren
hinterlassen haben. Doch die Politik hat auf diese Ereignisse reagiert. Auch
die Landesregierung bemüht sich mit zahlreichen Initiativen, Projekten und
Einzelmaßnahmen seit langem, Sachsen-Anhalt zu einem weltoffenen Land zu
gestalten, dessen Einwohner in einem Klima des Respekts und der Toleranz
friedlich zusammenleben. Und das unabhängig von ihrer sozialen, ethnischen oder
kulturellen Herkunft.
Mittlerweile leben in Sachsen-Anhalt rund 42.000 Ausländer/innen. Hinzu kommen
noch etwa 23.000 deutschstämmige Spätaussiedler/innen. Die Zahlen sind seit
Jahren relativ stabil. Rechnet man die in Deutschland geborenen Kinder dieser beiden Gruppen hinzu,
die oft ebenfalls die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, haben etwa 4
Prozent der Bevölkerung Sachsen-Anhalts einen ¿Migrationshintergrund¿. Dies ist
im Vergleich zu Westdeutschland, wo der Anteil der Zugewanderten in vielen
Ballungsgebieten bei 25 Prozent und darüber liegt, noch immer eine
vergleichsweise geringe Zahl. Und doch haben schon diese Menschen, die von allen
Kontinenten kommen, Sachsen-Anhalt in den vergangenen 20 Jahren verändert.
Es hat sich überhaupt ¿ wer wollte dies bestreiten - vieles verändert in den letzten 20 Jahren.
Globalisierung und Internationalisierung berühren fast jeden Lebensbereich, von
der Wirtschaft über die Hochschulen und das kulturelle Leben bis hin zum
Sportverein oder Kindergarten. Das Leben ist vielfältiger und bunter geworden.
Zuwanderung hat hierzu beigetragen. Aber manches ist auch komplexer geworden,
einige würden vielleicht auch sagen: schwieriger. Je vielfältiger die Lebens-
und Erfahrungswelten sowie der kulturelle und religiöse Hintergrund der im Land
lebenden Menschen ist, desto wichtiger ist es, klare, von allen anerkannte
Spielregeln zu haben, die festlegen, wie wir zusammen leben wollen. Diese Spielregeln
zu definieren ist eine der Aufgaben von Integrationspolitik.
Die abwegigen Thesen eines früheren Bundesbankvorstands mit Migrationshintergrund
haben in den letzten Wochen eine kontroverse Diskussion zum Thema Integration
ausgelöst. Dabei war in vielen Debattenbeiträgen ¿ oftmals, was besonders
ärgerlich ist, ohne jede Differenzierung ¿ zu
hören und zu lesen, ¿die Integration¿ sei gescheitert, insbesondere die
der muslimischen Zuwanderer. Ich halte diese These für völlig falsch! Richtig
ist, dass es in Deutschland viel zu lange versäumt wurde, eine konsequente Integrationspolitik
zu gestalten.
Auch in der alten Bundesrepublik ging man über Jahrzehnte davon aus,
Zuwanderung sei nur ein vorübergehendes Phänomen. Wozu gezielte Integrationsmaßnahmen
wie z. B. Sprachkurse anbieten, wenn doch die ¿Gastarbeiter¿ früher oder später
ohnehin wieder in ihre Heimatländer zurückkehren würden? Noch unter der
Kanzlerschaft von Helmut Kohl stand die Förderung der Rückkehr und nicht die
Integration im Zentrum der Ausländerpolitik. Es ist erst zehn bis fünfzehn
Jahre her, dass sich ¿ selbst bei den meisten Konservativen ¿ die Erkenntnis
durchgesetzt hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass hieraus
auch praktische Konsequenzen gezogen wurden. So wurde z. B. das
Staatsangehörigkeitsrecht reformiert und bundesweit ein Integrationskursangebot
auf- und ausgebaut.
Dass Integrationspolitik eine zentrale Zukunftsaufgabe auf allen politischen
Handlungsebenen ist, ist unter den demokratischen
Parteien und zwischen Bund und Ländern mittlerweile Konsens. Es wurde daher ein
Nationaler Integrationsplan entwickelt. Alle Bundesländer und viele Kommunen
haben außerdem Integrationskonzepte aufgestellt und vielfältige Fördermaßnahmen
initiiert. Auch Sachsen-Anhalt hat im November 2005 ein ¿Leitbild zur
Entwicklung der Zuwanderung und Integration in Sachsen-Anhalt¿ aufgestellt und
im Juni vergangenen Jahres zentrale Bausteine seiner Integrationspolitik in
einem ¿Aktionsprogramm Integration¿ zusammengefasst. In den letzten Jahren hat
sich also integrationspolitisch einiges getan. Doch sind Integrationsmaßnahmen
in der Regel Projekte, die ihre volle Wirkung erst langfristig zeigen. So
werden z. B. die positiven Auswirkungen der in den letzten Jahren ergriffenen
Maßnahmen zur frühkindlichen und schulischen Sprachförderung auf die Integration
der jüngsten Zuwanderergeneration erst in den kommenden Jahren und Jahrzehnten
voll sichtbar werden.
Wie aber könnte eine Integrationspolitik, die auf langfristige Wirkungen
ausgelegt ist, wenige Jahre nachdem sie
begonnen wurde, schon gescheitert sein? Entsprechende Vorwürfe sind
offensichtlich entweder polemisch oder von wenig Sachkenntnis getragen.
Natürlich wurde in der Integrationspolitik viel Zeit verschenkt. Als 1964 der
millionste ¿Gastarbeiter¿ ¿ ein Portugiese -
in die Bundesrepublik einreiste, wurde er auf einem Kölner Bahnhof mit dem Lied ¿Auf in den Kampf,
Torero¿ und einem Moped als Begrüßungsgeschenk empfangen. Rückblickend wäre es sicher besser gewesen, man hätte ihm
und allen anderen Arbeitsmigranten schon zu jener Zeit statt eines Mopeds einen
Integrationskurs finanziert! Diese Chance wurde vertan. Umso mehr gilt es,
jetzt entschlossen zu handeln. Sprachförderung, Bildung und Arbeitsmarktintegration
werden auch in den nächsten Jahren zentrale Handlungsfelder der Integration sein.
Als Land stellen wir uns dieser Herausforderung.
Die Deutsche Einheit, deren zwanzigsten Jahrestag wir in diesen Tagen begehen,
war für die DDR-Bürger mit einer Vision von Freiheit verbunden. Eine Freiheit,
die dadurch verwirklicht wird, dass jeder die konkrete Chance erhält, sich nach
seinen individuellen Fähigkeiten zu entwickeln. Die Deutsche Einheit ist daher
für mich erst dann vollendet, wenn alle, die rechtmäßig und auf Dauer in
Deutschland leben ¿ gleichgültig ob mit oder ohne Migrationshintergrund ¿ die
gleichen Chancen auf Bildung, auf einen
Ausbildungs- oder Studienplatz und auf eine Arbeitsstelle haben. Daran arbeiten wir.¿
Impressum:
Verantwortlich: Martin
Krems
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