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Ein neuer Phänomenbereich des politischen Extremismus: Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates


Die Corona-Pandemie führte seit April 2020 zu tiefgreifenden Einschränkungen des öffentli­chen Lebens. Im Zusammenhang mit Protesten gegen diese Eindämmungsmaßnahmen bildete sich auch ein Protestmilieu, das den Regierungsverantwortlichen und staatli­chen Stellen pauschal unterstellt, sie missbrauchten die Corona-Pandemie dazu, ein autori­täres Regime zu errichten und die Bürgerinnen und Bürger systematisch zu entrechten.

Ihren Ursprung hat dieser Teil der Protestbewegung in Berlin und in Stuttgart. Dort organi­sierten die Hauptprotagonisten Bodo SCHIFFMANN und Michael BALLWEG Demonstratio­nen unter dem Namen „Querdenken 711“ mit zwischenzeitlichen Teilnehmerzahlen im fünf­stelligen Bereich. Die so entstandene „Querdenkerbewegung“ breitete sich deutschlandweit rasch aus, mit der Folge, dass der Begriff der „Querdenker“ in der medialen Berichterstattung häufig als Synonym für jenes Protestmilieu verwendet wurde, welches die Ablehnung der Eindämmungsmaßnahmen mit einer Delegitimierung der Prinzipien und Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates verbindet.

In Sachsen-Anhalt bildete sich im Magdeburger Raum die Gruppe „Querdenken 391“, die sich allerdings schon Ende August 2020 von der „Querdenkerbewegung“ abspaltete. Ihre ehemaligen Akteure haben sich mittlerweile unter anderem in der Gruppierung „Mittel­deutschland steht auf und bewegt sich“ zusammengeschlossen. Auch in anderen Regionen des Landes bildeten sich lokale Kleingruppen, die Proteste und sogenannte Spaziergänge vor Ort organisierten. Eine zentral organisierte Protestbewegung ist in Sachsen-Anhalt bis­lang nicht entstanden.

Der extremistische Teil des Protestmilieus setzt sich zum Teil aus Akteuren zusammen, die nicht den „klassischen“ Phänomenbereichen des politischen Extremismus zugerechnet wer­den können, wenngleich viele von ihnen durchaus Beziehungen zum organisierten Rechts­extremismus sowie zur Reichsbürger- und Selbstverwalterszene, in Einzelfällen auch zum Linksextremismus unterhalten. Diese Herausbildung einer neuen Form des politischen Ext­remismus wurde von den Verfassungsschutzbehörden genau beobachtet, mit dem Ergebnis, dass diese im April 2021 den neuen Phänomenbereich der „Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ einrichteten.

 

Wer sind die „Delegitimierer“?

Der Begriff „demokratiefeindlich“ bezieht sich dabei nicht zuvorderst auf Bestrebungen, wel­che die Demokratie unmittelbar ablehnen. Kernelement ist die ständige, ohne konkreten Sachbezug zum Ausdruck gebrachte Verächtlichmachung der Institutionen des demokrati­schen Verfassungsstaates und seiner demokratisch legitimierten Repräsentanten. Das Vertrauen in das politische System soll insgesamt erschüttert werden, was letztendlich dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigen kann. Es geht also darum, dass ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen gezeigt werden, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundord­nung richten. Diese kommen beispielsweise in der Unterstellung zum Ausdruck, man lebe in einer Diktatur, die dem NS- oder DDR-Regime gleichzusetzen ist. Damit wird nicht nur das Vertrauen der Bevölkerung in die verfassungsmäßige Ordnung erschüttert; auch die Gewalt­herrschaften autoritär-repressiver Systeme werden auf diese Weise massiv verharmlost.

„Sicherheitsgefährdend'' sind Bestrebungen, die mit Gewaltandrohungen gegen Vertreter der parlamentarischen Demokratie oder auch mit Blockade- und Sabota­geaktionen gegen staatliche Einrichtungen sowie lebenswichtige Infrastruktur und Versor­gungseinrichtungen in Erscheinung treten. Die Szene rechtfertigt Gewalthandlungen oder deren Androhung häufig, indem sie sich auf ein Widerstandsrecht im Sinne von Artikel 20 Abs. 4 GG beruft. Dabei wird dieses Widerstandsrecht, teilweise bewusst, falsch verstanden. Denn diese Grundrechtsnorm bezieht sich lediglich auf das Recht der Bürgerinnen und Bür­ger zum Widerstand gegen Kräfte, die versuchen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu be­seitigen. Einzelne, zeitlich begrenzte Grundrechtseinschränkungen – wie etwa Eingriffe in die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) durch den Erlass von Versammlungsverboten oder Eingriffe in die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) durch die vom Staat angeordnete Schließung u.a. von Restaurants und Geschäften im Einzelhandel – zum Schutz der Bevölkerung vor außerordentlichen Gefahren sind von diesem Wi­derstandsrecht selbstverständlich nicht abgedeckt. Hier haben haben Bürgerinnen und Bür­ger die Möglichkeit, den Rechtsweg zu beschreiten, was bei Corona-Einschränkungen auch – zum Teil erfolgreich – in Anspruch genommen wurde.

Die verschwörungsideologischen Agitationen der Delegitimiererszene gefährden zum Beispiel die Sicher­heit von öffentlichen Personen (insbesondere von Politikern und Wissenschaftlern), aber auch von Ärzten, Pflegekräften und Mitarbeitern von Behörden. Dass diese Agitation in letzter Konsequenz zu Gewalthandlungen führen kann, zeigte auf tragische Weise das Tö­tungsdelikt in Idar-Oberstein am 18. September 2021, bei dem eine Person aus der Delegi­timiererszene nach der Aufforderung zum Tragen einer Maske einen jungen Studierenden erschoss, der seinem Nebenjob als Tankstellenwart nachging.

Der Verfassungsschutzverbund ordnet dem neuen Phänomenbereich der „Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ nur solche Bestrebungen zu, die nicht den „klassischen“ Phänomenbereichen des politischen Extremismus zugewiesen werden können. Der neue Phänomenbereich hat somit eine subsidiäre Funktion: Es wer­den damit nur Bestrebungen beschrieben, die aufgrund ihrer – insbesondere ideologischen – Heterogenität sonst nicht klassifiziert werden können. Das extremistische Personenpotenzial, das im Zusammenhang mit Protesten gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona- Pandemie in Erscheinung getreten ist, ist also größer als das Personenpotenzial des neuen Beobachtungsobjekts, da auch Rechtsextremisten sowie Reichsbürger und Selbstver­walter an den Protesten teilgenommen haben. In wenigen Fällen konnten sie die lokalen Pro­teste wesentlich prägen. So konnte die rechtsextremistische Gruppierung „Harzrevolte“ die Protestzüge in Halberstadt regelmäßig mit eigenem Banner anführen und u. a. durch das Verteilen von Fackeln Einfluss auf das Protestgeschehen nehmen. In Halle (Saale) hat der Rechtsextremist Sven LIEBICH zahlreiche Kundgebungen gegen die Eindämmungsmaß­nahmen angemeldet und durchgeführt. Diese Personen bzw. Personenzusammenschlüsse sind eindeutig dem Phänomenbereich Rechtsextremismus zuzuordnen. Dementsprechend klassifizieren die Verfassungsschutzbehörden sie weiterhin als Rechtsextremisten und nicht etwa als Teil des neuen Phänomenbereichs.

 

Typische Verschwörungsnarrative der Szene

Ein Kernelement der Szene bildet die Verbreitung von Verschwörungstheorien. Diese forcieren die Delegitimierung des Staates durch eine ausgeprägte Elitenfeindlichkeit und ein kategorisches „Freund-Feind-Denken“. Allen Verschwörungstheorien ist ein vereinfachtes, dualistisches Weltbild gemein, in dem nichts durch Zufall geschieht: Alle politischen Konflik­te, so die Prämisse, seien in Wirklichkeit auf die Machenschaften verborgener Hin­tergrundmächte zurückzuführen, die das Handeln der politischen Eliten steuern.

Selbstverständlich sind Verschwörungstheorien kein neues und auch kein für den neuen Phänomenbereich spezifisches Phänomen. Allerdings führte die Corona-Pandemie dazu, dass bekannte Verschwörungstheorien einen krisenbezogenen Anstrich erhielten. Bei­spiele hierfür sind die Behauptung, die (innerhalb der verschwörungsideologischen Szene seit jeher gefürchtete) 5G-Technologie würde Corona auslösen, oder die These, die Impfungen gegen das Corona-Virus dienten letztlich einer massiven Bevölkerungsreduktion. Anhänger der Delegitimiererszene, aber auch Rechtsextremisten, haben diese zuletzt genannte These häufig mit der neurechten Verschwörungstheorie vom „Großen Austausch“ zusammengeführt. Diese beinhaltet, dass die europäische Bevölkerung von Eliten aus Medien, Politik und Wirtschaft durch die Einwanderung insbesondere muslimischer Migrantinnen und Migranten ausgetauscht werden soll. In Verbindung mit dieser Verschwörungstheorie steht beispielsweise das Narrativ, dass Impfungen gegen Corona durch die Beeinträchtigung der Fruchtbarkeit diesen Bevölkerungsaustausch weiter beschleunigen sollen.

Zwei typische Verschwörungsideologien sind:

  • Der „Great Reset“: Die Bezeichnung geht auf eine Initiative des Weltwirtschaftsforums aus dem Jahr 2020 zurück, welche die Corona-Pandemie als Anlass zur Neugestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft sieht. Diese Initiative soll Konjunkturpakete für fairen wirtschaftlichen Wettbewerb, Reduzierung wirtschaftlicher Ungleichheiten und Investitionen im Bereich Nachhaltigkeit umfassen. Ver­schwörungsideologen sehen darin jedoch den Versuch einer geheimen Machtelite, die Weltherrschaft zu übernehmen und die Bevölkerung zu entrechten. Der „Great Reset“ wird mit dem „Großen Austausch“ in Verbindung gebracht, da die Delegitimiererszene einen Bevölkerungsaustausch als Teil der Strategie des „Great Reset“ betrachtet.
  • QAnon ist eine in den USA entstandene Verschwörungserzählung. Sie geht davon aus, dass im Geheimen agierende Eliten aus Staat und Gesellschaft, die die Geschicke des Landes bestimmen (der sog. „Deep State“), in unterirdischen Lagern Kinder foltern, um so das vermeintlich lebensverlängernde „Adrenochrom“ aus ihrem Blut zu gewinnen. Diese Erzählung bringen Verschwörungsideologen auch gerne in Zusammenhang mit dem „Great Reset“ oder dem „Großen Austausch“. Aus ihrer Sicht hängt letztlich ohnehin alles mit allem zusammen.

Ein Großteil der Kommunikation und damit auch der Vernetzung erfolgt über soziale Medien und Messengerdienste. Dementsprechend entfaltet sich die katalysatorische Wirkung von Verschwörungsideologien auf Radikalisierungsprozesse vermutlich vor allem über Telegram, Facebook oder andere soziale Medien.

 

Die Szene wendet sich neuen Themen zu

Mittlerweile ist das Corona-Protestgeschehen stark rückläufig und eine Mobilisierung von Bürgern gelingt kaum mehr. Auch in den sozialen Medien zeigte sich eine rückläufige Aktivi­tät. Es kristallisierte sich aber ein „harter Kern“ heraus, der versucht, die Proteste weiter fort­zusetzen - auch unabhängig von den Entwicklungen rund um Corona. Dieser „harte Kern“ zeigt ein tiefgreifendes Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Vertretern. Ein nicht abschließend quantifizierbarer Teil der Protestteilnehmenden hat dabei die Schwelle zur Ver­fassungsfeindlichkeit überschritten.

Um dem Rückgang der Teilnehmerzahlen entgegen zu wirken, wird versucht, sich thematisch breiter aufzustellen. Diese thematische Diversifizierung können wir so­wohl in den sozialen Netzwerken als auch bei realweltlichen Protesten beobachten. Auch im Ausland lässt sich diese Entwicklung feststellen, wie beispielsweise bei den Gelbwesten- Protesten in Frankreich. Pandemiebedingte Themen, insbesondere in Bezug auf die Impf­pflicht und Impfschäden, spielen dabei nach wie vor eine wichtige Rolle für delegitimierende Narrative. Neben pandemiebedingten Themen werden nun auch der Krieg Russlands gegen die Ukraine und damit einhergehende steigende Energiepreise thematisiert.

Vor dem Hintergrund dieser thematischen Flexibilität kann jede Krise, die sich auf den Alltag der Menschen auswirkt, ein Mobilisierungspotenzial für eine neue Protestbewegung entfal­ten. Der neue Phänomenbereich der „Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ bildet nun ein weiteres, differenziertes Analyseinstrument, mit dem extremistische Tendenzen innerhalb solcher Bewegungen von der Verfassungsschutzbehörde frühzeitig identifiziert werden können.