Informationsreihe: Was macht der Verfassungsschutz?
Teil 1: Aufgabe und Zweck nachrichtendienstlicher Arbeit
Der Auftrag der Verfassungsschutzbehörde ist im Gesetz über den Verfassungsschutz im Land Sachsen-Anhalt (VerfSchG-LSA) geregelt. Nach § 4 Abs. 1 VerfSchG-LSA besteht die Aufgabe des Verfassungsschutzes im Sammeln und Auswerten von Informationen über
- Bestrebungen, die
- gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung,
- gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder
- eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben,
- Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden sowie
- Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Artikel 9 Abs. 2 des Grundgesetzes), insbesondere das friedliche Zusammenleben der Völker (Artikel 26 Abs. 1 des Grundgesetzes) gerichtet sind.
Weitere Aufgaben der Verfassungsschutzbehörde sind die Abwehr ausländischer Spionageversuche sowie das Sammeln und Auswerten von Informationen über fortwirkende Strukturen und Tätigkeiten der Nachrichtendienste der ehemaligen DDR.
Was ist unter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu verstehen? Was ist eine extremistische Bestrebung?
Den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hat das Bundesverfassungsgericht in mehreren Urteilen näher bestimmt, zuletzt ausführlich in seinem Urteil im Rahmen des NPD-Verbotsverfahrens von 2017. Darin hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung im Kern drei Prinzipien umfasst:
- die Garantie der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG),
- das Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG und
- das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG.
Alle drei Prinzipien unterliegen der sogenannten Ewigkeitsklausel nach Art. 79 Abs. 3 GG, d.h. sie können durch den Gesetzgeber nicht geändert oder abgeschafft werden.
Um einen Zusammenschluss von Personen als extremistische Bestrebung einstufen zu können, muss die Verfassungsschutzbehörde gerichtsverwertbare Belege dafür erbringen, dass sich dieser Personenzusammenschluss gegen mindestens eines dieser drei Kernprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richtet.
Der Gesetzgeber hat den Begriff der „Bestrebung“ genau definiert: Nach § 5 Abs. 1 VerfSchG-LSA sind Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung solche politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, der darauf gerichtet ist, einen der Grundsätze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Verhaltensweisen von Einzelpersonen, die nicht in einem oder für einen Personenzusammenschluss handeln, dürfen vom Verfassungsschutz nur beobachtet werden, wenn sie auf die Anwendung von Gewalt gerichtet oder aufgrund ihrer Wirkungsweise geeignet sind, eines der oben genannten Schutzgüter erheblich zu beschädigen.
In der öffentlichen Wahrnehmung wird Extremismus oft fälschlicherweise mit politisch motivierter Kriminalität assoziiert oder gar gleichgesetzt. Extremistische Bestrebungen gehen jedoch nicht zwingend mit strafrechtlich relevantem Verhalten einher, dessen Verfolgung allein Polizei und Justiz obliegt. Viele Extremisten setzen in ihrem Kampf bewusst auf eine „legalistische“ Strategie, die auf eine Überwindung des demokratischen Verfassungsstaates im Rahmen der gültigen Gesetze abzielt. Daher kann der Extremismus sein Bedrohungspotenzial bereits entfalten, ohne dass eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder eine Straftat vorliegt.
Was bedeutet Verfassungsschutz als „Frühwarnsystem“?
In den frühen Jahren der Bundesrepublik Deutschland hat sich der Gesetzgeber – noch unter dem Eindruck des Untergangs der Weimarer Republik – entschlossen, einen Inlandsnachrichtendienst einzurichten. Dieser sollte als eine Art „Frühwarnsystem“ fungieren, d. h. extremistische Bestrebungen bereits im Vorfeld einer konkreten Gefahrensituation oder der Verletzung von Strafgesetzen beobachten und über diese Bestrebungen öffentlich aufklären soll. Diese Aufklärungsfunktion des Verfassungsschutzes hat der Landesgesetzgeber auch ausdrücklich im VerfSchG-LSA verankert. Nach § 15 Abs. 2 VerfSchG-LSA muss der Verfassungsschutz die Öffentlichkeit periodisch und aus gegebenem Anlass im Einzelfall über die extremistischen Bestrebungen unterrichten. Dies geschieht insbesondere in Form des jährlich veröffentlichten Verfassungsschutzberichts. Darüber hinaus verpflichtet § 4a VerfSchG-LSA die Verfassungsschutzbehörde, extremistischen Bestrebungen durch Informations- und Präventionsangebote entgegenzutreten.
Im Gegensatz zur Polizei hat die Verfassungsschutzbehörde keine exekutiven Befugnisse
(z. B. die Befugnis, Verhaftungen, Wohnungsdurchsuchungen oder Verhöre durchzuführen). Aufgrund des in Deutschland geltenden Gebots der Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten ist die Tätigkeit des Verfassungsschutzes darauf beschränkt, Informationen im Rahmen seiner gesetzlichen Befugnisse zu sammeln, auszuwerten und staatliche Stellen sowie die Öffentlichkeit über die ihm vorliegenden Informationen zu unterrichten.
Wie gewinnt der Verfassungsschutz seine Informationen?
Den größten Teil seiner Informationen gewinnt der Verfassungsschutz aus offenen Quellen
(z. B. öffentliche Reden, Buchpublikationen oder Soziale Medien). Da sich hieraus aber nicht immer ein vollständiges Bild ergibt – z. B. weil nicht alle Extremisten ihre verfassungsfeindlichen Ziele offen propagieren –, darf die Verfassungsschutzbehörde im Rahmen gesetzlich festgelegter Grenzen auch verdeckte nachrichtendienstliche Mittel zur Informationsbeschaffung einsetzen.
Allerdings dürfen solche Mittel nur eingesetzt werden, wenn sie angemessen und erforderlich sind, d. h. wenn zuvor alle Möglichkeiten der offenen Informationsbeschaffung ausgeschöpft wurden (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit).
Warum handelt der Verfassungsschutz politisch unabhängig, aber nicht wertneutral?
Immer wieder behaupten Extremisten, der Verfassungsschutz werde von der Regierung zur Unterdrückung anderer Meinungen missbraucht und sei daher nicht von Geheimdiensten autoritärer Regime zu unterscheiden. So hat zum Beispiel der stellvertretende Landesvorsitzende des vom Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt als gesichert rechtsextremistisch eingestuften Landesverbandes Sachsen-Anhalt der Partei „Alternative für Deutschland“, Oliver Kirchner, den Verfassungsschutz als „BRD Stasi“ diffamiert.[1] Diese Gleichsetzung des Verfassungsschutzes mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR ist ein Beispiel für die Versuche von Extremisten, das demokratische und rechtsstaatliche System der Bundesrepublik Deutschland sowie seine Institutionen und deren Vertreter verächtlich zu machen, indem diese mit Institutionen und Praktiken autoritärer Systeme gleichgesetzt werden.
Die folgende Übersicht zeigt die grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem Verfassungsschutz und der Stellung des MfS in der autoritären Einparteiendiktatur der DDR auf:
Verfassungsschutz | Ministerium für Staatssicherheit (MfS) |
Schützt die freiheitliche demokratische Grundordnung. | Sicherte die autoritäre Herrschaft der SED („Schild und Schwert der Partei“). |
Aufgaben und Befugnisse sind vom Parlament gesetzlich geregelt. | Keine rechtsstaatliche gesetzliche Grundlage. |
Kontrolle durch alle Staatsgewalten. | Keine rechtsstaatliche Kontrolle. |
Keine Zwangsbefugnisse, ausschließlich beobachtende Tätigkeit. | Praktisch unumschränkte polizeiliche und geheimdienstliche Befugnisse. |
Anders als die Inlandsnachrichtendienste autoritärer oder totalitärer Staaten hat der Verfassungsschutz nicht die Aufgabe, die Herrschaft einer Regierungspartei zu schützen und zu diesem Zweck die politische Opposition zu überwachen. Der Verfassungsschutz ist weder einer bestimmten Partei noch irgendeiner politischen Ideologie, sondern ausschließlich dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verpflichtet.
In den meisten Bundesländern werden die Aufgaben des Verfassungsschutzes von einer
Abteilung des Innenministeriums des jeweiligen Landes wahrgenommen. Auch in Sachsen-Anhalt ist der Verfassungsschutz im Ministerium für Inneres und Sport (MI) angesiedelt. Als Teil der Verwaltung erfolgt die fachliche Arbeit – unabhängig von der organisatorischen Anbindung und Unterstellung – ausschließlich nach Recht und Gesetz auf Basis der einschlägigen rechtlichen Befugnisse und Aufgaben. Die fachlichen Bewertungen des Verfassungsschutzes erfolgen daher – ebenso wie die Lagebeurteilungen der ebenfalls dem Ressortbereich des MI zugeordneten Polizei – politisch unabhängig. Dass die Verfassungsschutzbehörden ihre Bewertungen unabhängig von einer Ideologie und von politischer Einflussnahme vornehmen, bedeutet jedoch nicht, dass sie wertneutral handeln. Da der Verfassungsschutz zu prüfen hat, ob politische Bestrebungen mit der Menschenwürdegarantie sowie mit dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes vereinbar sind, ist ihm eine wertneutrale Bewertung, die diese Prinzipien ausblendet, nicht möglich. Der Verfassungsschutz ist ein Instrument der „wehrhaften Demokratie“: Dieses Demokratiekonzept, an dem sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes orientiert haben, besagt im Wesentlichen, dass der demokratische Verfassungsstaat, um sich gegen seine Feinde behaupten zu können, diesen gerade nicht wertneutral gegenüberstehen kann.
In einer liberalen Demokratie ist – anders als in autoritären oder totalitären Staaten – durch eine Reihe von Kontrollmechanismen sichergestellt, dass sich der Verfassungsschutz streng an seinen gesetzlichen Auftrag und an die für seine Tätigkeit geltenden Rechtsvorschriften hält.
In Sachsen-Anhalt kontrolliert der Landtag auf parlamentarischer Ebene die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde. Diese Aufgabe nimmt das Parlamentarische Kontrollgremium wahr, dessen Zusammensetzung, Aufgaben und Befugnisse in §§ 24 ff. VerfSchG-LSA geregelt sind.
Sämtliche Maßnahmen der Verfassungsschutzbehörde – z. B. die Nennung von Personenzusammenschlüssen und Einzelpersonen in den Verfassungsschutzberichten – unterliegen der gerichtlichen Nachprüfung. Jeder Personenzusammenschluss und jeder Bürger, der sich durch eine Maßnahme des Verfassungsschutzes in seinen Rechten verletzt sieht, kann dagegen gerichtlich vorgehen.
[1] https://www.instagram.com/p/C06m9v0huQG/?locale=en_US%2Cen_GB%2Cen_US%2Cen_GB