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Aktuelles vom Verfassungsschutz

Fachtagung des Verfassungsschutzes zu den Herausforderungen der wehrhaften Demokratie

Unter dem Titel „Die wehrhafte Demokratie und ihre Feinde: Verfassungsschutz in unruhigen Zeiten“ hat der Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt am 17. Oktober 2024 seine jährliche Fachtagung veranstaltet. Rund 130 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Sicherheitsbehörden, der Landesverwaltung, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft nahmen an der Tagung im Konferenzsaal des Landesbetriebs für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft (LHW) teil. Inhaltlicher Schwerpunkt der Veranstaltung war die Frage, mit welchen Herausforderungen das Konzept und die Praxis wehrhafter Demokratie in Deutschland 75 Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes konfrontiert ist. Moderiert wurde die Tagung von der Journalistin Blanka Weber.

In seinem Grußwort erinnerte Klaus Zimmermann, Staatssekretär im Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt, an einen der Vordenker des Konzepts der wehrhaften Demokratie, den Staatsrechtslehrer Karl Loewenstein (1891-1973). Im amerikanischen Exil hatte dieser bereits 1937 gefordert, dass demokratische Staaten im Kampf gegen den Faschismus notfalls bereit sein müssten, die Demokratie auch mit solchen Mitteln zu verteidigen, die auf eine Einschränkung politischer Grundrechte für Verfassungsfeinde hinauslaufen. Als beispielhafte Instrumente nannte Loewenstein u. a. Partei- und Vereinsverbote sowie Gesetze gegen die Verbreitung von Desinformation und diskriminierenden Äußerungen. Staatssekretär Zimmermann wies auf den Einfluss des Konzepts der wehrhaften Demokratie auf die Genese des deutschen Grundgesetzes hin und betonte, dass eine Auseinandersetzung mit Loewensteins Thesen auch heute noch lohnenswert sei.

Der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Christian Waldhoff, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, ging in seiner Keynote mit dem Titel „Wehrhafte Demokratie – Ursprünge, Anwendung, Zukunftsperspektiven“ auf die in der deutschen Verfassungsordnung verankerten rechtlichen Instrumente der wehrhaften Demokratie ein. Den Schwerpunkt seiner Ausführungen bildete das in Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) vorgesehene Instrument des Parteiverbots. Prof. Waldhoff wies auf den enormen Aufwand und den großen zeitlichen Umfang des bis dato letzten Parteiverbotsverfahrens – des Verfahrens gegen die NPD von 2013 bis 2017 – hin, an dem er als Prozessbevollmächtigter des Bundesrates mitgewirkt hat. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in diesem Verfahren würdigte Prof. Waldhoff als ein Grundsatzurteil, das den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie die daraus folgenden Anforderungen an ein Parteiverbot präzisiert habe. Die Erfolgsaussichten eines Verbotsverfahrens ließen sich nun von vornherein besser einschätzen. So sei ein Verbotsantrag nur im Fall von Parteien realistisch, die das vom BVerfG neu geschaffene Kriterium der Potenzialität erfüllen – deren Stärke es also zumindest grundsätzlich möglich erscheinen lässt, dass die Partei ihre verfassungsfeindlichen Ziele erreichen kann. Im Falle der vom Verfassungsgesetzgeber in Reaktion auf das NPD-Urteil des BVerfG von 2017 geschaffenen Möglichkeit, verfassungsfeindliche Parteien von der staatlichen Parteienfinanzierung auszuschließen (Art. 21 Abs. 3 GG), besteht diese Hürde nicht; ein solcher Ausschluss setzt jedoch auch die Feststellung des verfassungsfeindlichen Charakters einer Partei durch das BVerfG voraus. Am Ende seines Vortrags nannte Prof. Waldhoff die Möglichkeit der Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG als ein weiteres Instrument der wehrhaften Demokratie, die das Grundgesetz vorsieht. In der Rechtspraxis habe sich dieses Instrument bislang nicht als praktikabel erwiesen; alle Anträge nach Art. 18 GG seien in der Vergangenheit vor dem BVerfG gescheitert.

Im Anschluss an die Keynote folgte eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Nie wieder ist jetzt!?“: Ist unsere Gesellschaft wehrhaft genug?“, in die neben Prof. Waldhoff der Leiter des Verfassungsschutzes Sachsen-Anhalt, Jochen Hollmann, der Journalist Maximilian Steinbeis (Verfassungsblog) und der Sozialwissenschaftler David Begrich (Miteinander e. V.) ihre Perspektiven einbrachten. Die Podiumsteilnehmer wiesen auf diverse Herausforderungen der Demokratie (Rechtsextremismus, Islamismus, Desinformation, Einflussnahmeversuche autoritärer Mächte) hin, waren sich aber einig darin, dass die Demokratie in Deutschland wehrhaft genug sei, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Alle Redner teilten zudem die Position, dass eine wirksame Bekämpfung des Rechtsextremismus nicht nur die Anwendung der repressiven Instrumente wehrhafter Demokratie (z. B. Vereins- und Parteienverbote), sondern auch umfangreiche präventive Maßnahmen voraussetzt. Jochen Hollmann wies darauf hin, dass der Verfassungsschutz mit seinen Informationsangeboten einen Beitrag zur Extremismusprävention leiste, dass dem Staat die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus aber nicht allein überlassen werden dürfe. David Begrich und Maximilian Steinbeis forderten in diesem Zusammenhang eine umfassendere Förderung der ostdeutschen Zivilgesellschaft in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, insbesondere im ländlichen Raum.

Nach der Mittagspause, die Gelegenheit zum Austausch über die zuvor behandelten Inhalte bot, referierte David Begrich über „Zeit- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte des Rechtsextremismus in Ostdeutschland“. Er konstatierte, dass in einigen ostdeutschen Regionen eine Normalisierung rechtsextremistischer Politik zu beobachten sei, und erinnerte daran, dass diese Entwicklung eine Vorgeschichte in der Transformationsphase der Nachwendezeit habe. In den 1990er Jahren sei in Ostdeutschland nicht nur eine starke rechtsextremistische Jugendkultur entstanden; führende Kader der westdeutschen Neonazi-Szene wie Michael Kühnen hätten die neuen Bundesländer zudem als ein „Testgelände“ betrachtet, auf dem sie Strategien wie das Konzept der „befreiten Zonen“ ausprobieren konnten, die sie in der fest verankerten politischen Kultur der alten Bundesrepublik Deutschland nicht hatten umsetzen können. Aufgrund der mangelnden Verankerung von Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und anderen Organisationen im vorpolitischen Raum habe die gerade erst im Entstehen begriffene ostdeutsche Zivilgesellschaft dieser rechtsextremistischen Aufbauarbeit zu wenig entgegensetzen können. Als weitere Aspekte der Vorgeschichte des von ihm diagnostizierten aktuellen „antidemokratischen Grundrauschens“ in Ostdeutschland nannte Begrich die Präsenz der NPD in den Landtagen von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern in den 2000er und 2010er Jahren, Pegida, die asylfeindlichen Proteste in den Jahren 2015/2016 und die Beteiligung von Extremisten an den Protesten gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Begrich wies darauf hin, dass sich Rechtsextremisten in den zwei Jahrzehnten sehr darum bemüht hätten, die Sehnsucht vieler Ostdeutscher nach der Aufwertung einer ostdeutschen Identität und gleichzeitig antiwestliche Ressentiments zu bedienen. In ihren Kampagnen zu den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg habe die AfD zuletzt sehr stark auf eine solche ostdeutsche Identitätspolitik gesetzt („Simson statt Lastenrad“) – mit Erfolg, wie die Wahlergebnisse gezeigt hätten.

In dem letzten Fachvortrag der Tagung ging Dr. Hilmar Steffen, Leiter des Referates Rechtsextremismus der Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt, auf die vom Verfassungsschutz im Oktober 2023 vorgenommene Einstufung des AfD-Landesverbandes Sachsen-Anhalt als gesichert rechtsextremistische Bestrebung ein. Um zu demonstrieren, dass die politische Agitation der AfD Sachsen-Anhalt sich gegen essentielle Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richtet, führte Dr. Steffen beispielhaft Äußerungen des Landesverbandes und seiner führenden Funktions- und Mandatsträger an, die gegen das Prinzip der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG und das Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 2 GG gerichtet sind. Dr. Steffen wies darauf hin, dass die AfD Sachsen-Anhalt ideologisch der sogenannten „Neuen Rechten“ zuzurechnen sei, dass ihre Funktions- und Mandatsträger aber Verbindungen in das gesamte rechtsextremistische Spektrum sowie zu „Reichsbürgern“ und zur Delegitimiererszene unterhalten. Auch diese Verbindungen sowie die Tatsache, dass einige Funktions- und Mandatsträger der AfD Sachsen-Anhalt einen eindeutigen Vorlauf in der rechtsextremistischen Szene aufweisen, seien für die Einstufung des AfD-Landesverbandes Sachsen-Anhalt als gesichert rechtsextremistische Bestrebung relevant gewesen.

In seinem Schlusswort betonte Jochen Hollmann, dass der Verfassungsschutz ein institutioneller Ausdruck des Konzepts der wehrhaften Demokratie sei. Der Verfassungsschutz habe nämlich den gesetzlichen Auftrag, Feinde der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu beobachten – und nicht etwa nur Bestrebungen, die den Bestand der staatlichen Ordnung oder die innere Sicherheit gefährden. Bei der Beantwortung der Frage, ob eine Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sei, habe sich der Verfassungsschutz streng an die vom BVerfG entwickelte Definition der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu halten. Die Einstufungen des Verfassungsschutzes seien insofern objektiv und politisch unabhängig; da jedoch die freiheitliche demokratische Grundordnung selbst keine wertneutrale Ordnung sei, seien auch die Analysen des Verfassungsschutzes niemals völlig wertneutral. Im Gegenteil sei der Verfassungsschutz dazu verpflichtet, Partei zu ergreifen für die freiheitliche Demokratie – und gegen Bestrebungen, diese durch eine autoritäre, illiberale Ordnung zu ersetzen. Es sei freilich keine Überraschung, dass insbesondere jene politischen Kräfte, die solche Bestrebungen verfolgen, den Verfassungsschutzbehörden mangelnde „Neutralität“ vorwerfen. Mit derlei Anfeindungen werde der Verfassungsschutz auch künftig zu rechnen haben.