Ideologie
Die folgenden Behauptungen werden von Akteuren der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene immer wieder geäußert:
- Die Bundesrepublik Deutschland sei kein echter Staat im völkerrechtlichen Sinn, sondern eine Firma mit staatsähnlichen Strukturen, eine „BRD-GmbH“. Es handele sich um ein reines „Verwaltungs- und Firmenkonstrukt“.
- „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ bestreiten die Unabhängigkeit der Bundesrepublik Deutschland. Sie behaupten, Deutschland habe keine gültige Verfassung oder das Grundgesetz habe mit der Wiedervereinigung 1990 seine Gültigkeit verloren.
- Das Deutsche Reich bestehe völkerrechtlich fort, sei jedoch nach wie vor von den alliierten Siegermächten des II. Weltkriegs besetzt. Um diese Behauptung zu untermauern, verweisen Szeneanhänger häufig auf die Militärpräsenz der USA, die eines der bevorzugten Feindbilder der Szene darstellen.
- In Deutschland gelte noch immer das Kriegsrecht und das während der Nachkriegszeit eingesetzte Besatzungsregime der alliierten Siegermächte. In diesem Zusammenhang weisen „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ häufig darauf hin, dass es keinen Friedensvertrag gebe, mit dem der II. Weltkrieg beendet worden sei. Ebenso gehen viele Szeneakteure davon aus, dass in Deutschland aufgrund des vermeintlich fortbestehenden Kriegszustands die Regeln der Haager Landkriegsordnung (HLKO) Anwendung finden.
Um diese allesamt sachlich und rechtlich falschen Behauptungen zu belegen, bedienen sich „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ diverser Verschwörungstheorien, die teilweise auch in den Phänomenbereichen Rechtsextremismus und Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates populär sind. Ein besonderes Charakteristikum der Szene ist ihre Vorliebe für pseudojuristische und pseudohistorische Argumentationen. „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ verwenden eine beträchtliche Energie auf die Suche nach Rechtsdokumenten, die sie als vermeintliche Belege für ihre kruden Behauptungen anführen. Dabei setzen sie gezielt auf Desinformation; bei der Auswahl von Texten gehen sie extrem selektiv und manipulativ vor: Textausschnitte werden zum Beispiel bewusst falsch interpretiert, aus dem Kontext gerissen oder von weiteren Textpassagen aus demselben Dokument isoliert, die den Thesen der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene widersprechen.
Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der Umgang der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR aus dem Jahr 1973. Das BVerfG hat in diesem Urteil festgestellt, dass das Deutsche Reich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht untergegangen ist. Für gewöhnlich zitieren „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ diese Feststellung, ohne auf die nachfolgenden Passagen in dem Urteilstext einzugehen: Das BVerfG hat darin ausgeführt, dass die Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich identisch ist – hinsichtlich ihres Staatsterritoriums allerdings nur teilidentisch. Nach der Wiedervereinigung hat das BVerfG diese Rechtsprechung nicht verändert. Seit dem 3. Oktober 1990 ist die
Bundesrepublik Deutschland damit der einzige deutsche Nationalstaat. Die Behauptung der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene, das Staatswesen des historischen Deutschen
Reiches existiere real weiter, ist daher unzutreffend.
Das Weltbild vieler Anhänger der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene weist Anknüpfungspunkte zu rechtsextremistischen Ideologieelementen auf. Die Vorstellung von einem vermeintlich fortbestehenden „Deutschen Reich“ und eine darauf gegründete völkerrechtliche Delegitimierung der Bundesrepublik Deutschland ist auch innerhalb der rechtsextremistischen Szene weit verbreitet. Weitere rechtsextremistische Ideologeme, die von einem Teil der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene geteilt werden, sind geschichts- und gebietsrevisionistische Überzeugungen, völkisches Gedankengut und antisemitisches Verschwörungsdenken. Allerdings ist nur eine kleine Minderheit der Personen, die der Verfassungsschutz als „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ einstuft, gleichzeitig der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen (siehe den Abschnitt Personenpotenzial). Bei den meisten Akteuren der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene sind eindeutige Elemente einer rechtsextremistischen Weltanschauung nicht festzustellen.





